Gemeinsam lernen – Inklusion an deutschen Schulen
Inhalt
- Ein Bildungssystem für alle
- Kritik von Lehrern und Eltern: mangelnde Kompetenz
- Schulung der Lehrkräfte
- Inklusion erfordert ein Umdenken
- Inklusion an deutschen Schulen – noch ein langer Weg bis zum Ziel
- Regelschule oder Förderschule?
- Deutschland muss offener werden
- Inklusion – in aller Munde, aber nicht in allen Köpfen
- Weitere Materialien:
Seit Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2006 ist der Begriff der Inklusion in aller Munde. Ziel des internationalen Übereinkommens soll eine Gesellschaft sein, an der jeder Mensch unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, Bildung und körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen in allen Lebensbereichen uneingeschränkt teilnehmen kann. Inklusion betrachtet die Heterogenität der Gesellschaft als selbstverständlich, grundlegend und positiv – und ist nur umsetzbar, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so flexibel gestaltet sind, dass sie jedem einzelnen Menschen die Teilhabe ermöglichen.
Ein Bildungssystem für alle
Ein zentraler Bereich der Inklusion wird in Artikel 24 der UN-Konvention festgehalten: die Bildung. Ob Kindertagesstätte, Schule oder Hochschule – nach Vorgaben der UN-Konvention soll das deutsche Bildungssystem so umgestaltet und verändert werden, dass niemand aufgrund einer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen wird.
Dabei ist es die Aufgabe des Schulsystems, die Bedürfnisse aller Kinder zu berücksichtigen und mithilfe spezieller Methoden und eines geschulten Lehrpersonals einzelne Lernende individuell zu fördern. Ziel soll es sein, dass alle SchülerInnen mit und ohne Beeinträchtigungen an ein und demselben Unterricht teilnehmen können.
Kritik von Lehrern und Eltern: mangelnde Kompetenz
Neben einer barrierefreien Umgestaltung der Gebäude, die natürlich absolute Voraussetzung von Inklusion ist, ist der zentrale Aspekt die spezielle Schulung von Lehr- und Fachkräften. Doch an diesem Punkt kommt es sowohl von Seiten der LehrerInnen als auch von Seiten der betroffenen Eltern oftmals zu Kritik. Viele LehrerInnen fühlen sich der Aufgabe nicht gewachsen und viele Eltern beklagen, dass das Lehrpersonal nicht ausreichend qualifiziert ist.
Katja von der Osten, 2. Vorsitzende von KIDS Hamburg e.V. (Kontakt und Informationszentrum Down-Syndrom) und selber Mutter eines 9-jährigen Sohnes mit Down-Syndrom, weiß aus eigener Erfahrung, dass viele Lehrer vor einer Aufgabe stehen, die sie nur schwer bewältigen können:
„Viele Lehrer haben überhaupt keine Erfahrung mit dem Thema Behinderung im Unterricht und während ihrer Ausbildung auch keinerlei Berührung damit gemacht. Sie machen vieles im Unterricht einfach so weiter wie bisher.“
Schulung der Lehrkräfte
Tatsächlich ist es so, dass zwar mittlerweile die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Inklusion zum Studium und ins Referendariat gehört, aber die „älteren“ praktizierenden LehrerInnen in ihrer Ausbildung mit den Bereichen Sonderpädagogik und Inklusion nicht in Berührung gekommen sind – und damit sind nicht nur die LehrerInnen gemeint, die kurz vor der Pensionierung stehen, sondern auch die, die ihr Staatsexamen erst vor 10 Jahren absolviert haben. Die Lösung können und müssen Schulungen und vor allem auch ein Umdenken sein.
„Ich verstehe, dass ein Lehrer sich nicht auf zig verschiedene Diagnosen vorbereiten kann, aber einfache, kleine Tipps, wie z.B., dass betroffene Kinder vorne in der Klasse sitzen sollten, mit ihnen langsam und deutlich gesprochen werden sollte, man viel Geduld haben muss etc., können auch alle Regellehrer schaffen. Spezielle Förderung können dann die Profis anregen und umsetzen“
, so von der Osten.
Inklusion erfordert ein Umdenken
Markus A.* ist Schulsozialarbeiter an einer Kieler Grundschule, die sich als Inklusionsschule versteht. Der Diplom-Sozialpädagoge sieht die Problematik ähnlich:
„An meiner Grundschule haben wir in jeder Klassenstufe eine sogenannte „I-Klasse“. Diese Klassen sind kleiner als die Regelklassen, oft sind zwei Lehrerinnen gleichzeitig im Unterricht. In diesen Klassen funktioniert die Inklusion gut, da nur Lehrkräfte eingesetzt werden, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt haben und die bereit sind, diese Kinder entsprechend zu unterrichten und zu fördern. In den Regelklassen, in denen ebenfalls viele Kinder mit sozialen und emotionalen Entwicklungsproblemen sind, klappt es nicht.“
Markus A. möchte anonym bleiben, weil er die Ursache für das Scheitern ganz klar in der mangelnden Kompetenz der Lehrkräfte sieht:
„Inklusion kann meiner Meinung nach funktionieren, allerdings müssen die Lehrkräfte auch darauf vorbereitet werden und bereit sein umzudenken! Alle Lehrkräfte sollten regelmäßig Fortbildungen dazu besuchen müssen.“
Anpassung des Schulsystems
Der Vorwurf richtet sich nicht konkret an das Fachpersonal, sondern in erster Linie an das Schulsystem, das die Lehrkräfte nicht gut genug auf die Inklusion vorbereitet und keine guten Lehrbedingungen schafft. Die meisten Lehrer haben ihren Schuldienst begonnen als Inklusion noch kein Thema war, sind also unter anderen Voraussetzungen eingestellt worden.
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Natürlich bedeutet die Vorbereitung auf Inklusionskinder unter anderem auch zeitlichen Mehraufwand, der bislang nicht angemessen angerechnet und vergütet wird. Kleinere Klassen, ein besserer Personalschlüssel, feste, angerechnete Zeiten für die Kommunikation und den Austausch zwischen den Lehrern, aber nach Bedarf auch mit Sonderpädagogen, Psychologen, Logopäden, Ergotherapeuten und anderen Fachleuten sowie der Einsatz verschiedener Lernformen und -methoden sind weitere wichtige Schritte in die richtige Richtung.
„Die staatlichen Regelschulen sind sehr bemüht, teilweise aber auch offen und ehrlich „überfordert“, d.h. Kinder werden bewusst nicht aufgenommen, da die Mittel und Kompetenzen fehlen“
, bemerkt Raphaela Wendt, stellvertretende Geschäftsführerin und Vorstandsmitglied der Benita Quadflieg Stiftung. Die Hamburger Stiftung unterstützt Kinder mit Entwicklungsverzögerungen, Behinderungen und frühkindlichen Traumata, setzt das Konzept der Inklusion im Kinderhaus Mignon schon seit langem sehr erfolgreich um und bietet Seminare und Beratung zu den Themen an.
Inklusion an deutschen Schulen – noch ein langer Weg bis zum Ziel
Wendt ist neben ihrer Arbeit in der Benita Quadflieg Stiftung auch privat in das Thema Inklusion involviert, da eines ihrer Kinder sprach- und entwicklungsverzögert ist. Sie ist sich sicher:
„Trotz der Bemühungen und der Entscheidungen, die heute getroffen werden, ist das Ziel einer Inklusion noch lange nicht erreicht. Ich bin der Überzeugung, dass Behörde, Lehrer, Sonderpädagogen und Eltern in einen engen Dialog gehen müssten, um eine gute Umsetzung zu ermöglichen.“
Ein weiterer Punkt ist ihr besonders wichtig:
„Ich wünsche mir, dass die Politik den Eltern mit Kindern mit Förderbedarf die bürokratischen Wege vereinfachen und viele davon auch ersparen sollte.“
Dieser Meinung ist auch Katja von der Osten. Ihr Verein KIDS Hamburg e.V. bekommt häufig Mails und Anrufe von Eltern mit Kindern mit Down-Syndrom, die sich von der Politik im Stich gelassen fühlen und deren Anträge auf kindbezogene Schulbegleitung von der Schulbehörde abgelehnt werden, weil die Mittel fehlen.
Regelschule oder Förderschule?
Wenn auch die Umsetzung der Inklusion an vielen Schulen noch nicht klappt, so ist sie doch wünschenswert und sinnvoll in einer so heterogenen Gesellschaft wie der unseren. Doch braucht man dann noch Förder- und Sonderschulen? Schulsozialarbeiter Markus A.* hat vor seiner Tätigkeit an der Kieler Grundschule an einem Förderzentrum gearbeitet und dadurch den direkten Vergleich:
„Inklusion hat eine Grenze: Und zwar das Wohlbefinden der Kinder. Es gibt auch Kinder mit geistiger oder körperlicher Beeinträchtigung, die sich an einer Regelschule nicht wohlfühlen. An einer Förderschule sehen sie, dass es andere Kinder mit gleichen/ähnlichen Beeinträchtigungen gibt und dass sie mit diesen gemeinsam lernen und Zeit verbringen können.“
Vorteile der Förder- und Sonderschulen
Anke K.* ist Lehrkraft an einer Hamburger Sonderschule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Sie findet es wichtig, dass es bei dem heutigen Stand unseres Schulsystems weiterhin auch Förder- und Sonderschulen gibt, so dass Eltern die Wahl haben:
„Viele Eltern entscheiden sich bewusst für unsere Schule, da es zum Beispiel kleine Klassen, einen guten Personalschlüssel, multiprofessionelle Teams, individualisierten, aber auch stark ritualisierten Unterricht und natürlich den unterrichtsunterstützenden Einsatz von Gebärden und Bildern gibt. Zudem sieht sich unsere Schule aber auch als allgemeinbildende Schule, da die SchülerInnen auch Unterricht in Deutsch, Mathe, Englisch (ab Klasse 3), Sachunterricht usw. erhalten.“
Vielen Kindern mit geistiger Beeinträchtigung verleiht dieser kleinere Rahmen mehr Sicherheit und sie haben mehr Möglichkeiten, in ihrem Tempo und nach ihren Möglichkeiten zu lernen.
„Inklusion darf nicht auf Kosten der SchülerInnen umgesetzt werden“
, so Anke K.* weiter. Sie beobachtet an ihrer Schule, dass immer häufiger auch Kinder zu ihnen kommen, die dem Druck der Regelschulen nicht Stand halten können.
„Solange Schule nicht ganz anders gedacht wird – nämlich als „Schule für alle“ mit Schulinhalten für Kopf, Herz und Hand – hat unsere Schulform auf jeden Fall noch ihre Berechtigung“
, so die studierte Sonderschulpädagogin.
Deutschland muss offener werden
Ein zentraler Punkt, damit Inklusion in Deutschland funktionieren kann, ist ein Umdenken in der Gesellschaft.
„Leider sind wir ein echtes Schlusslicht in Europa, was das Thema Inklusion betrifft“
, sagt von der Osten.
„Wir Deutschen sind in diesem Punkt keine offene Gesellschaft. In anderen Ländern wie zum Beispiel England gehen Kinder mit Down-Syndrom schon immer in normale Regelschulen und arbeiten anschließend beim Friseur, Bäcker oder im Einzelhandel. Sie gehören zur Gesellschaft und es ist völlig normal für die Menschen, keine Berührungsängste zu haben, da sie als Kinder mit diesen besonderen Menschen in der Grundschule waren“
, berichtet die 2. Vorsitzende von KIDS Hamburg e.V.
Inklusion – in aller Munde, aber nicht in allen Köpfen
Dieses Umdenken in den Köpfen der Menschen zu fördern und sie für das Thema Inklusion zu sensibilisieren hat sich Mischa Gohlke mit der Initiative „Grenzen sind relativ“ auf die Fahne geschrieben. Der Musiker, der selbst seit Geburt an Taubheit grenzend hörgeschädigt ist, engagiert sich seit Jahren für gesamtgesellschaftliche inklusive Projekte.
„Wir ALLE sind „behindert“. Egal ob körperlicher, mentaler, sozialer, kultureller, emotionaler, empathischer, finanzieller oder/und struktureller Natur. Viele Barrieren finden in den Köpfen statt“
, so Gohlke. Zusammen mit seinem Team bietet er an Schulen „Aktionstage Inklusion“ an, bei denen Schüler, Lehrer und Eltern erfahren können, was Inklusion beinhaltet und es werden zielführende Impulse für konkrete Maßnahmen und Aktionen in den jeweiligen Schulen gegeben. Aus der Initiative heraus entstand im letzten Jahr „ AndersSein vereint“, eine bewegende Hymne für ein selbstverständliches und inklusives Miteinander. Fazit dieses „Inklusionssongs für Deutschland“ lautet: „Einfach Mensch sein!“ – und wenn dieser Gedanke wirklich in unseren Köpfen verankert ist und sich die Rahmenbedingungen unseres Schulsystems entsprechend anpassen, dann ist hoffentlich auch eine erfolgreiche Inklusion an unseren Schulen möglich.
Video – Anders sein vereint
Bücher zum Thema Inklusion
Weitere Materialien:
- Inklusion Schule
- UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen
- Elternlobby für Inklusion – Mittendrin e.V.
* Namen von der Redaktion geändert